Oft, wenn wir auf unseren Seminaren über Führung reden, frage ich meine Kunden: 'Warum rennt ein Jungwolf mit einem Jahr nicht einfach los, wenn er ein Reh sieht und Hunger hat? Ihn hält ja keine Leine. Wieso bleibt er an der Seite des Altwolfs und bewegt sich nicht, obwohl er noch nicht die Erfahrung gemacht hat, dass sein zu frühes Losrennen das Wild warnen würde?' Weil der Altwolf, seine Eltern, ihm bereits in völlig anderen Situationen beigebracht haben, dass jetzt “warten und Stille” angesagt sind. Und warum brechen Eure Hunde nach vorne, bleiben nicht an eurer Seitenbrüllen gar oder ziehen wie verrückt?'"
Und dann habe ich letztens den Spruch gelesen:
"Hört endlich auf, euren Hund mit dem Wolf zu vergleichen. Wir Menschen vergleichen uns ja auch nicht mehr mit den Affen."
Ich bin kein Wolfsforscher, es gibt Menschen, die so etwas taten oder tun. Wir haben auch keine Wölfe zu Hause, nicht mal einen Wolfshund oder ein Wolfsgehege, in dem wir Besucher herumführen und das Verhalten hinter den Zäunen erklären müssten. Aber wir haben ein Rudel Hunde, die relativ frei miteinander leben können. Das dürfen sie, weil es Regeln gibt.
Regeln, die sie selbst aufgestellt haben und die in Stein gemeißelt sind. Und diese Regeln erinnern noch sehr an den Umgang der wilden Tiere untereinander. Natürlich gibt es auch Regeln, die wir aufstellen.
Nach dem geistigen Durchkauen dieses Spruchs diskutierte ich abends mit Linda. Immerhin gehören Wolf und Hund derselben Art an und können Nachkommen miteinander zeugen. Was haben sie noch gemeinsam?
Wir haben den Wolf umgestaltet. Bis auf wenige Rassen sieht der Hund auch nicht mehr aus wie seine Vorfahren. Wir haben ihn domestiziert, selektiert, gezüchtet, verstümmelt und uns seine speziellen Eigenschaften zunutze gemacht. Alles, was wir früher von ihm brauchten, haben wir uns geholt:
Das Jagen, Hetzen, Stöbern, den finalen Biss wie bei den Terriern gegenüber den Ratten, das Umkreisen und Zutreiben der Beute wie beim Hütehund. Seine Lauffähigkeit für die Schlittenhunde, sein territoriales Verhalten als Wachhund, sein soziales Verhalten für Hunderudel auf der Jagd und auch für unsere Seele. Und so, wie wir ihn zu einem Spezialisten seiner Eigenschaften gemacht haben, haben wir ihm auch die passende Größe für den neuen Job verpasst.
Aber sein guter Geruchssinn, sein gutes Gehör sind in der Regel – wenn wir züchterisch nicht bis zur Qualzucht übertrieben haben – noch da.
Die Domestikation hat hauptsächlich zu Verhaltens- und Aussehen-Unterschieden geführt, viele grundlegende biologische und anatomische Merkmale sind jedoch erhalten geblieben. Die Domestikation hat die Wildform verändert, aber keine neue Art erschaffen.
Seine Fortpflanzung, beginnend beim Deckakt und, wenn er kann, das Buddeln einer Höhle. Die Aufzucht, die Tragezeit, das Säugen und die bedingungslose Verteidigung der Welpen gegen Fremde – all das ist noch ähnlich. Seine Liebe zu frischem Fleisch, seine Verdauung und sogar die Haltung beim "Lösen" sind vergleichbar.
Und da wir schon beim Körper und seinen Haltungen sind: Oft ähneln sich die Bilder noch. Sein Spiel, seine Demutsgesten, seine Körpersprache, sein Aggressionsverhalten – all das ist noch da oder zumindest ähnlich. Wer zwei Hunde hat, sieht es vielleicht täglich: Der Beste von beiden, der Souveränste, führt.
Wölfe leben, wie Hunde mit uns, in sozialen Strukturen. Im natürlichen Verhalten von Hunden – wenn man sie lässt und führen kann – ist das Rudel eine soziale Einheit, in der klare Hierarchien und Strukturen herrschen.
Beim Wolfsrudel sind es meistens erfahrene Eltern, die die Führung übernehmen. Sie zeigen Führungsmerkmale, setzen Grenzen und übernehmen Verantwortung. In unserem Rudel zu Hause ist es ähnlich: Es gibt Hunde mit Führungsmerkmalen, an denen sich die anderen orientieren.
Sie kommunizieren trotzdem noch sehr arttypisch – wölfisch?
Da beklagen sich dann schon mal Besitzer von zwei Hunden, dass ihre Hunde lieber miteinander kommunizieren, und man selbst bleibt dabei außen vor. Und wieso übrigens jagt der Dackel den Schäferhund aus dem Zimmer?
Warum schickt von unseren zwei Hunden der Straßenhund den gut ausgebildeten Diensthund bei Hundebegegnungen nach vorne, während man selbst unglücklich an der Leine hinterherläuft?
Wenn wir als Menschen keine Führungsmerkmale haben, stimmt oft etwas in unserer Beziehung zum Hund nicht. Das sieht man dann beim Spaziergang.
In unserem Umfeld lassen wir kann der Hund nicht mehr Wolf sein. Er ist Teil unseres Lebens und muss sich komplett anpassen. Wir züchten und erziehen ihn und machen ihn zum Hund.
Fragen wir doch mal die Hunde, die "wildern", die erstarren, wenn sie etwas in die Nase bekommen. Und natürlich ist es beim Jagdhund auch eine riesige, von uns gewollte genetische Veranlagung. Aber was, wenn der Pudel plötzlich verschwunden ist?
Viele Hunde würden liebend gern jagen. Viele sind Jäger, das kann man nicht ändern. Wir können aus einem Jäger keinen Nicht-Jäger machen, das geht nicht. Es liegt in seinen Genen, und diese sind mächtig. Aber durch gute Führung können wir dafür sorgen, dass er unser Rudel nicht verlässt.
Fragen wir die Hunde, die ihr Territorium verteidigen. Und fragen wir die Hunde, die abends glücklich neben ihren Besitzern im neuen Rudel liegen. Leckerli kauend würden sie sagen: "Doch, manchmal bin ich ein Wolf. Lass mich mal machen. Und an mein Leckerli kommt keiner."
Wir können sie leider nicht fragen. Wir können nur beobachten, was noch da ist. Wenn sie z. B. sehnsüchtig-aufgeregt dem Wild nachschauen, diese Steigerung der Energie, ohne dass sie dem Wild nachgehen dürfen.
Wenn wir sie miteinander "sprechen" sehen, um ihre Alltagssituationen zu klären. Die Rüden, die um eine läufige Hündin kämpfen würden oder bei denen es bereits vorher geklärt ist, wer der Vater werden darf – ohne dass wir jemals eine Rauferei gesehen haben. Oder wenn sich unsere läufigen Hündinnen immer zuerst bei unserem kastrierten Rüden zuwenden, ein sehr guter Führungshund. Und unsere drei potenten Deckrüden nicht angefragt werden?
Wir beobachten sie, wenn sie in der Meute laufen und wir ihre Kraft und Ausdauer spüren. Wenn sie in den Gesang der Sirenen einstimmen, in der Hoffnung, Gleichgesinnte zu finden. Und oft, wenn ich sie allein beobachte, versuche ich, mich in sie hineinzuversetzen, dann denke ich: "Was für ein tolles Rudel!"
Und wir zwei gehören dazu.